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AVANTI September 2004
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Seite 3

Einheit statt Spaltung

Innenpolitik
Parolen und Perspektiven:
Sind wir das Volk?
Wie weiter mit den Montagsdemonstrationen?
Im Sog der Wahlalternative
Betrieb & Gewerkschaft
Siemens strebt weitere tarifliche Verschlechterungen an
Vivantes Berlin: Beschäftigte werden nicht gefragt – Hat die Gewerkschaft immer Recht?
Pakt mit der Wirtschaft statt Ausbildungsplatzabgabe
Abschluss bei DaimlerChrysler bricht Belegschaft nicht
Schwerpunkt
Frankfurter Aktionskonferenz: Gemeinsam für einen heißen Herbst!
Unsere Agenda lautet 30/10!
Garantiertes, bedingungsloses und ausreichendes Grundeinkommen für alle
Geschichte
„Schafft Rote Hilfe!“
International
Philippinen: Mindanao – der wilde Süden
Kopftuchdebatte: Schlaglichter
Irak: Tugendterror und Warlordisierung
Die US-Präsidentschaftswahl 2004
Kultur
Liedermacher Bernd Köhler
Und...
Leserbrief

„Schafft Rote Hilfe!“
Rote Hilfe Deutschlands – lange Zeit war diese Organisation deren Mitgliederzahl Anfang der 1930er Jahre in die Hunderttausende ging, und zu deren Führungspersönlichkeiten oder Unterstützern so unterschiedliche Menschen wie Wilhelm Pieck, Clara Zetkin, Herbert Wehner, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Albert Einstein oder Thomas Mann gehörten, in Vergessenheit geraten.

Dabei sind zentrale Themen der Roten Hilfe wie Kampf gegen ein politisches Strafrecht, das gezielt gegen die Linke eingesetzt wird, für ein Asylrecht, das diesen Namen auch verdient, gegen Polizeiwillkür und Beschneidung der bürgerlichen Grundrechte, für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe, (leider) auch heute noch aktuell.
Eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Roten Hilfe in Deutschland von ihren Vorläufern in den Jahren 1919 bis 1923 über den Aufbau der zentralisierten Mitgliederorganisation ab 1924 bis zur Umwandlung der – illegalen – Roten Hilfe in die Deutsche Volkshilfe Ende der 30er Jahre fehlte bislang sowohl in der bürgerlichen wie marxistischen Geschichtsschreibung.
Die Arbeit des Münchner Historikers Nikolaus Brauns schließt diese Lücke und kein an der deutschen Arbeiterbewegung Interessierter wird sie ignorieren können. Nicht nur die beeindruckende Materialfülle, erstmalig ausgewertete Quellen aus einem halben Dutzend deutscher Archive, besticht, sondern auch die zeitlich und sachlich klar gegliederte Darstellung der verschiedenen Aktivitäten der Roten Hilfe von der Sozialfürsorge für die Familien politischer Gefangener, über die juristische Unterstützung proletarischer Angeklagter und die rechtswissenschaftliche Tätigkeit bis hin zu illegalen Fluchthilfeaktivitäten und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Die Arbeitsweise der Roten Hilfe wird an den großen Kampagnen deutlich, die sich um so legendäre Namen wie Erich Mühsam, Max Hoelz, Richard Scheringer, Sacco und Vanzetti oder um die Abschaffung des § 218, die Freilassung politischer Gefangener in (halb)faschistischen Ländern wie Bulgarien, Polen, Ungarn und Italien rankten.
Aber auch die alltägliche Kleinarbeit, das Sammeln von Spenden für die Familienhilfe oder Unterschriften für die Vollamnestie, der Kontakt zu politischen Gefangenen durch Besuche und Briefe, Demonstrationen, Filmabende und Gedenkveranstaltungen für gefallene Revolutionäre werden anschaulich dargestellt.

Kurswechsel in der KPD

Auch für die Debatte um die Ursachen der scharfen Kurswechsel der KPD in den 20er Jahren liefert Brauns umfangreiches neues Material. Führten die Interventionen widerstreitender Fraktionen der Kominternführung zu den Kursschwankungen oder lagen die Ursachen hierfür in den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konflikten in Deutschland sowie den Mitgliederinteressen und -einstellungen innerhalb der KPD?
Erstaunlicherweise spielte die Rote Hilfe in dieser Debatte bislang überhaupt keine Rolle, obwohl diese mitgliederstärkste kommunistisch gelenkte Massenorganisation ab 1928 ebenfalls in den Sog der KPD-Fraktionskämpfe geriet. Der Autor liefert in seiner Analyse der Roten Hilfe zahlreiche überzeugende Hinweise für die These, dass weder primär der Einfluss der Komintern-Führung für die radikale Wandlung der deutschen kommunistischen Bewegung verantwortlich war, wie von Hermann Weber behauptet, noch der Linienkampf verschiedener Cliquen innerhalb der KPD, wie von Klaus Kinner vertreten.
Er sieht im Wechselverhältnis der politischen und ökonomischen Krise in Deutschland einerseits und einer durch eben diese Umstände radikalisierten Anhängerschaft der proletarischen Organisationen andererseits den Boden, der für die Eingriffe der Moskauer Komintern-Führung günstige Voraussetzungen schuf. Die Reaktion der Roten Hilfe auf die schändliche Haltung der SPD-Führung zur Vollamnestie für Tausende proletarische Gefangene, Ereignisse wie den „Berliner Blutmai“ von 1929 oder die Einrichtung von Schnellgerichten ab 1932 verdeutlichen, dass es auch die praktische Erfahrung mit der Rolle der Sozialdemokratie im Staat sowie mit dem rapiden Abbau demokratischer Rechte war, die zu einer Radikalisierung kommunistischer Politik führten.
Als einzige Massenorganisation der KPD wurde die Rote Hilfe auch unter dem Faschismus bis Ende 1938 aufrechterhalten. Die Untersuchung der Aktivitäten der Roten Hilfe während dieser Zeit bringt neue Erkenntnisse über Möglichkeiten und Grenzen des antifaschistischen Widerstands in Deutschland. Bei den Bemühungen der Kommunisten zur Schaffung „antifaschistischer Einheits- und Volksfronten“ in Deutschland und den angrenzenden Ländern spielte die Rote Hilfe, die auf langjährige Erfahrung in der Bündnispolitik zurückgreifen konnte, eine bis jetzt unterschätzte Schlüsselrolle als Bindeglied zu nichtkommunistischen Teilen des Widerstands.
Bücher dieses Umfangs können trotz klarer Struktur und flüssigen Stils manchmal ermüdend sein. Um so höher ist es Autor und Verlag anzurechnen, dieses Buch im Großformat mit rund 300 Abbildungen und Faksimiles, von denen ein gut Teil seit den 20er und 30er Jahren erstmalig wieder veröffentlicht werden, auch zu einer opulenten optischen Zeitreise durch ein fast vergessenes Kapitel der Weimarer Republik gemacht zu haben.

J. T.


Nikolaus Brauns: Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene (1919-1938) 348 S., 300 Abb., Großformat, gebunden. Pahl-Rugenstein Verlag, 32.00€

 

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