Blick in den Giftschrank

Die Bayerische Staatsbibliothek präsentiert in einer Sonderausstellung ihre „Remota“

 

Was haben Hans Beimlers Broschüre „Mörderlager Dachau“, Marquis de Sades erotische Erzählungen und die Sendemanuskripte des Bayerischen Rundfunks gemeinsam? Sie alle wurden zu unterschiedlichen Zeiten von der Bayerischen Staatsbibliothek als so genannte Remota eingestuft. Der lateinische Begriff „remota“ meint etwas „Weggeschafftes“ oder „weit entferntes“. Im Falle der genannten Bücher heißt dies, dass sie im Giftschrank der Bibliothek verschwanden und dem Besucher gar nicht oder nur in wissenschaftlich begründeten Ausnahmefällen zugänglich waren.

 

Erstmals gewährt die Bayerische Staatsbibliothek einen Blick in ihr Reich der „verbotenen Bücher“. Gezeigt wird eine Auswahl jener Werke, die zu bestimmen Zeiten vom allgemein zugänglichen Bestand ausgesondert waren. Dazu zählen insbesondere erotische und sexualwissenschaftliche Werke, politisch unerwünschte Texte sowie Veröffentlichungen, die von Anfang an nicht für eine breite Öffentlichkeit gedacht waren.

 

Den Kern der Remota bildete die Anfang des 19. Jahrhunderts angelegte „Erotische Bibliothek“ des bayerischen Finanzbeamten Franz von Krenner, die anschließend vom bayerischen König Max I. Joseph für die Hofbibliothek erworben wurde. Krenner hatte alles gesammelt, was im weitesten Sinn mit der Liebe zu tun hatte – von juristischen und moraltheologischen Abhandlungen über Ehe und Konkubinat bis zu Graphiken mit eindeutig sexuellem Inhalt.

Weitere Abteilungen für erotische Literatur wurden 1924 eingerichtet und umfasst Texte bis in die 1970er Jahre. Neben Groschenheftchen, die von der „Prüfstelle München für Schund- und Schmutzschriften“ zensiert worden waren, kamen auch Neuauflagen klassischer erotischer Literatur wie den Schilderungen de Sades sowie seriöse sexualwissenschaftliche Arbeiten und die beliebten Ratgeber zur „vollkommenen Ehe“ in den Giftschrank.

Es sollte übrigens bis zum Jahr 1966/67 dauern, bis die Bibliothek ihre erotischen Bestände überhaupt im Katalog verzeichnete. Vorher war deren Existenz nur Fachleuten bekannt.

 

An der nationalsozialistischen Bücherverbrennung beteiligte sich die Staatsbibliothek nicht. Dafür wanderten die Werke verbotener Autoren – vor allem von Regimegegnern und Juden – als „bolschewistische, marxistische oder pazifistische Schriften“ in eine neu eingerichtete Remota-Abteilung. Im Unterschied zu anderen Remotabeständen stehen diese Bücher heute wieder an ihren an gestammten Plätzen in den Regalen der Bibliothek. Geblieben ist eine rund 5500 Titel umfassende Zettelkartei als Zeugnis der verfolgten Literatur.

Ebenfalls unter dem Faschismus wurde eine Remota-Abteilung für im Ausland erschienene antifaschistische und NS-kritische Werke, Schriften deutscher Emigranten sowie Erfahrungsberichte aus der Nazi-Haft angelegt. Willi Münzenbergs Braunbuch zum Reichstagsbrand befindet sich hier ebenso wie Klaus Manns im Exil verfasster Roman „Der Vulkan“.

Politisch unliebsame Literatur war auch nach dem Krieg von der Bibliothekszensur bedroht. So wurde in den 70er Jahren nicht nur der autobiographische Bericht des westdeutschen Stadtguerilleros Bommi Baumann weggesperrt, sondern auch ein Buch mit Sprüchen des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, dass diesen als Antidemokraten und Reaktionär entlarvte. Schließlich fallen unter die Remota noch Texte, die mit Vermerken wie „Sicher aufbewahren“ oder „Nur zur privaten Verwendung“ niemals für ein größeres Publikum bestimmt waren. Fahndungsblätter der Polizei gehören hier ebenso dazu, wie unveröffentlichte Theaterstücke.

 

Wie mir ein Mitarbeiter der Bibliothek versicherte, gäbe es heute nur noch für einen kleinen Teil der Remota Benutzungsbeschränkungen, so für volksverhetzende, rassistische und antisemitische Werke sowie harte Pornographie.

 

Von der fortdauernden Stigmatisierung einstmals mit dem Signaturkürzel „rem“ ausgezeichneter Werke konnte ich mich dagegen vor einigen Monaten selbst überzeugen, als ich das 1931 erschienene Buch „Geschlechtsleben und Strafrecht“ des kommunistischen Rechtswissenschaftlers Felix Halle entleihen wollte. Zu Zeiten des erzkatholischen Reichskanzlers Brüning mit dem Bannfluch belegt konnte diese scharfe marxistische Kritik an pfäffischer Moral und dem Mittelalter entlehnten Sexualrechtsvorstellungen bis heute ihr Schmuddelimage nicht loswerden. „Einmal Remota, immer Remota“, seufzte die Bibliothekarin. Erst auf Nachweis einer wissenschaftlichen Tätigkeit bekam ich Einsicht in das vor 70 Jahren von der Roten Hilfe verlegte Werk.

 

Die noch bis zum 17. Dezember 2002 in der Staatsbibliothek gezeigte Ausstellung, die durch einen umfangreich bebilderten Katalog ergänzt wird, ist vor allem unter kulturhistorischem Gesichtspunkten sehenswert, demonstriert sie doch eindrucksvoll und zum Teil amüsant den Wandel moralischer Vorstellungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Veränderungen. Und die Ausstellung räumt mit dem im Westen immer noch weit verbreiteten Vorurteil auf, nur die Bibliotheken der DDR hätten ihre Giftschränke gehabt.

 

Nikolaus Brauns

 

2. Oktober bis 17. Dezember 2002

Bayerische Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16 München

Öffnungszeiten: Mo – Fr 10 – 18 Uhr; Do 10 – 20 Uhr; Sa, So 10 – 17 Uhr.

Katalog 232 Seiten, 14, 80 €