Auftakt zum Weltkrieg

Vor 100 Jahren begann der Zweite Balkankrieg. Im Hintergrund wirkten die Großmächte

Von Nick Brauns

 

Ohne Kriegserklärung befahl der bulgarische Zar Ferdinand seiner Armee in der Nacht vom 29. Juni 1913 einen Angriff auf die in Mazedonien stehenden griechischen und serbischen Truppen. Mit diesem Überfall Bulgariens auf seine ehemaligen Verbündeten war der Befreiungskrieg der christlichen Balkanvölker vom türkischen Joch umgeschlagen in einen Eroberungskrieg der Balkanstaaten um die Aufteilung der Beute untereinander.

Die im Interesse des europäischen Gleichgewichts auf dem Berliner Kongreß von 1878 unter Vermittlung des »ehrlichen Maklers« Reichskanzler Otto von Bismarck vereinbarten künstlichen Grenzziehungen auf dem Balkan waren zu einer Quelle beständiger Zwietracht zwischen den Völkern geworden. Die Machtübernahme der reformorientierten Jungtürken durch eine Militärrevolte im Jahr 1908 im Osmanischen Reich beschleunigte die Auflösungserscheinungen in dem Vielvölkerstaat. Und mit der formalen Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn brach die Zwangsordnung des Berliner Kongresses schließlich zusammen.

Imperiale Blöcke


Um ein weiteres Vorrückten des Habsburgerreiches zu verhindern, ermutigte Rußland im Frühjahr 1912 einen Zusammenschluß von Serbien und Bulgarien zum Balkanbund, der sich mit dem Beitritt Griechenlands und Montenegros zum Kriegspakt gegen das Osmanische Reich wandelte. Im Oktober 1912 nutze der Balkanbund die Schwäche des »kranken Mannes am Bosporus«, um die jahrhundertelange osmanische Herrschaft in Europa endgültig mit einem Präventivkrieg zu beenden und Kreta und Makedonien zu befreien. Keine zwei Monate später hatten die 474000 Soldaten der Verbündeten 290000 osmanische Soldaten an allen europäischen Fronten geschlagen.

Dieser Krieg sei »ein Versuch, auf schnellstmöglichem Weg das Problem zu lösen, wie neue staatlich-politische Formen geschaffen werden können, die für die ökonomische und kulturelle Entwicklung der Balkanvölker besser geeignet sind«, schrieb der russische Sozialist Leo Trotzki als Balkankorrespondent der südrussischen Tageszeitung Kiewskaja Mysl. Im Einklang mit der revolutionären Sozialdemokratie plädierte er unter der Losung »Der Balkan gehört den Balkanvölkern« für die völlige Nichteinmischung der Großmächte. »Das bedeutet nicht nur, daß sich die Hände der Großmächte nicht nach der Grenze des Balkans ausstrecken dürfen, sondern auch, daß im Rahmen dieser Grenze die Balkanvölker ihre Angelegenheiten selbst regeln müssen – entsprechend ihrer Kraft und ihrer Vernunft – im jeweiligen Land, das sie besiedeln Die imperialistischen Mächte hätten allerdings ihre »Vermittlungsagenturen« in Form der »Balkandynastien«, warnte Trotzki, der den Balkan mit einem Schachbrett verglich, auf dem Könige und Minister zwar die Hauptfiguren seien, doch die wahren Spieler – die europäischen Großmächte – von oben auf das Brett schauten.

Mit dem von diesen Mächten den Balkanstaaten am 30. Mai diktierten Vorfrieden von London verlor die Türkei alle europäischen Besitztümer westlich der Linie zwischen dem Schwarzmeerhafen Midia und Enos an der Ägäisküste. Österreich-Ungarn und Italien hatten die Anerkennung eines albanischen Staates unter der Regentschaft des deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied durchgesetzt und so verhindert, daß Serbien einen Zugang zum Mittelmeer bekam. Als Kompensation für den verweigerten Adriahafen erhielt Serbien das Kosovo. Deutschland und Österreich-Ungarn mußten mit einer Seeblockade gegen Montenegro die Übergabe der Festungsstadt Skutari an Albanien erzwingen. »Der Frieden am Balkan bedeutet die Zerreißung der europäischen Türkei und gleichzeitig die sichere Gewähr für den nächsten Krieg um die asiatische Türkei«, warnte Rosa Luxemburg.

Serbien und Griechenland sahen sich um ihre Gebietsansprüche in Albanien betrogen und vereinbarten in einem Geheimabkommen, als Kompensation das vor dem Krieg Bulgarien zugesprochene Makedonien unter sich aufzuteilen. Mit dem Versprechen an Rumänien, Grenzbereinigungen auf Kosten Bulgariens vorzunehmen, heizten die Großmächte die Situation weiter an. Das isolierte Bulgarien schloß sich dem von Deutschland geführten Dreibund an, während Rumänien der englisch-französisch-russischen Entente beitrat.

Frieden von Konstantinopel

Bulgariens unter Verkennung der Kräfteverhältnisse am 29. Juni gestarteter Angriffskrieg auf seine ehemaligen Verbündeten führte zu seiner völligen Niederlage. Am 9. Juli griffen rumänische Truppen erstmals in den Krieg ein und stießen auf Sofia vor, während türkische Truppen die Festungsstadt Edirne zurückeroberten. Angesichts dieses Vierfrontenkrieges kapitulierte Bulgarien und unterzeichnete am 10. August den Frieden von Bukarest. Griechenland und Serbien konnten durch die Aufteilung Makedoniens ihr Territorium nahezu verdoppeln, Rumänien bekam die Stadt Silistra und die südliche Dobrushda, die Türkei erhielt mit Edirne einen europäischen Brückenkopf zurück. Bulgarien wurde auf Druck Rußlands ein zwölf Kilometer langer Streifen mit einem Hafen an der Ägäisküste zugestanden.

In beiden Balkankriegen waren schätzungsweise 200000 Soldaten getötet worden. Dazu kamen ungezählte zivile Opfer insbesondere unter der muslimischen Bevölkerung. Denn Massaker an der Zivilbevölkerung, Vergewaltigungen und Vertreibungen waren anders als in früheren Kriegen keine bloßen Begleiterscheinungen, sondern elementarer Bestandteil einer nationalistischen Kriegsstrategie geworden. Während Moscheen in Kirchen umgewandelt wurden, flohen Hunderttausende Muslime in die Türkei. Dagegen vertrieben oder ermordeten Partisanen der von der türkischen Armee unterstützten Geheimorganisation Teskilat- Mahsusa die bulgarische Bevölkerung in Ostthrakien. Der schließlich am 29. September 1913 geschlossene Frieden von Konstantinopel, der Ostthrakien zu türkischem und Westthrakien zu bulgarischem Gebiet erklärte, enthielt als erster Friedensvertrag der Geschichte einen Bevölkerungsaustausch mit dem Ziel einer ethnischen Entmischung.

Mit Ausnahme von Albanien, das allerdings nur einen Teil der Albaner auf dem Balkan umfaßte, hatte jeder Balkanstaat ihm feindlich gesonnene nationale Minderheiten innerhalb seiner Grenzen. So lebten in einigen der an Serbien und Griechenland angegliederten mazedonischen Gebieten fast ausschließlich Bulgaren, die auch in der nun zu Rumänien kommenden südliche Dobrushda fast die Hälfte der Einwohner bildeten, während Rumänen dort gerade einmal drei Prozent ausmachten.

Der Friede von Bukarest war nur eine Zwischenetappe zum nächsten, diesmal auf Europa übergreifenden Krieg. Dabei waren es die europäischen Großmächte selber, die mit ihrer permanenten Einmischung in dieser Region die Lunte am Pulverfaß Balkan gelegt hatten. Aus einer weniger mitteleuropäisch-zentrierten Geschichtssicht können die Balkankriege so nicht nur als Vorgeschichte, sondern vielmehr integraler Bestandteil des Ersten Weltkrieges gesehen werden.

 

Gleichzeitige Revolutionen: Quellentext der Sozialdemokraten Serbiens, 1913

Wie die Ereignisse liegen, haben wir fast keine Hoffnung mehr, daß auf dem Balkan bald Ruhe wird. Sollte in Bukarest der Friedensvertrag unterzeichnet werden, so wird man damit, unsrer Meinung nach, nur dem Namen nach Frieden schaffen. Wenn die engere Verbindung, das heißt eine föderative Republik der Balkanstaaten nicht verwirklicht wird, gehen wir neuen Kämpfen entgegen, da alle Dynastien, militärischen, bureaukratischen und kapitalistischen Cliquen die Hegemonie für sich anstreben – bis diese gegenseitigen Kämpfe uns gänzlich erschöpft haben werden, bis wir zuletzt eine Beute der großen europäischen Eroberermächte geworden sind. Der Friede kann keinen Bestand haben aus denselben Gründen, aus denen der Krieg selbst – der gegen die Türkei und der zwischen den ehemaligen Kriegsverbündeten – ausbrach.

Alle möchten die Länder, das heißt, die Hegemonie haben und den ganzen Balkan vollständig und ungestört beherrschen. Eben dieser Ehrgeiz wird die Balkanstaaten in neue gegenseitige Kämpfe und Kriege verwickeln. Nur die gleichzeitige Revolution in allen Balkanstaaten, die die Dynastien und herrschenden Cliquen verjagen, die Demokratie einführen und die bestehenden Grenzen aufheben würde; die Balkanstaaten wirtschaftlich, kulturell und politisch vereinigen und allen Nationen ihre Freiheit und nationale Weiterentwicklung verbürgen würde, wäre im Stande, weiteren blutigen Scenen auf dem Balkan ein Ende zu machen.

Aus einem Bericht der Sozialdemokratischen Partei Serbiens im Cirkular Nr. 12/1913 des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB), S.2

 

Junge Welt 6.Juli 2013