„Der
eigenen Verantwortung stellen“
Deutschland und der Genozid an den
Armeniern
Von
Nikolaus Brauns
„Ist
dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im
verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden
aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?“[1],
wollte der sozialistische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht am 11.Januar
1916 wissen. Und welche Schritte die Reichsregierung bei der verbündeten
türkischen Regierung unternommen habe, „um die gebotene Sühne herbeizuführen,
die die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei
menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu
verhindern?“ Der Reichsregierung sei bekannt, dass die Pforte „durch
aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung
bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue
Wohnstätten angewiesen hat“, gibt ein Vertreter des Auswärtigen Amtes die
zumindest bei der türkischen Regierung bis heute gültige Lesart der Ereignisse
wieder. Als Liebknecht in einer Nachfrage unter Berufung auf den Theologen
Johannes Lepsius von einer „Ausrottung der türkischen
Armenier“ spricht, wird er von anderen Reichstagsabgeordneten unterbrochen und
ihm dann unter „lebhaftem Bravo“ vom Reichstagspräsidenten das Wort entzogen.
Während
der Theologe Lepsius, der Sozialist Liebknecht oder
der als Sanitätsoffizier in Ostanatolien dienende pazifistische Reiseschriftsteller
und Photograph Armin T. Wegner unter Bedingungen der Kriegszensur die
Massakrierung der armenischen und aramäischen Christen durch die jungtürkische
Partei „Einheit und Fortschritt“ anprangerten, war die politische und
militärische Führung des Deutschen Kaiserreichs nicht
nur Mitwisser sondern bis zu einem gewissen Grad sogar Mittäter.[2]
„Ein einziger Befehl des Kaisers hätte in der Tat viele Armenier retten können“[3],
zeigt sich Wolfgang Gust als intimer Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes zur
Orientpolitik in seiner Rede zum Gedenken an den Genozid am 24.April 2009 in
der Frankfurter Paulskirche überzeugt.
Durch
den Bündnisvertrag zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich
für die Waffenbrüderschaft im Kriege wurden der deutschen Militärmission
weitgehend die osmanischen Streitkräfte unterstellt. Die Macht über die Truppe lag
damit beim jungtürkischen Kriegsminister Enver Pascha – einem der
Hauptverantwortlichen für den Völkermord - und einer Gruppe zum Teil äußerst
anti-armenisch eingestellter deutscher Generäle und Admiräle. Die deutsche politische Führung war durch die
Berichte ihrer Diplomaten, von denen einige wie der Vizekonsul in Erzurum, Max
Erwin von Scheubner-Richter, direkt deutsche Hilfe
gegen die Massaker erbaten, über die Gräueltaten ihrer türkischen Verbündeten
bestens informiert.[4]
Doch die Diplomaten wurden vom Botschafter angewiesen, Kritik am Vorgehen ihrer
türkischen Verbündeten allenfalls als „freundschaftlichen Rat“, aber
keinesfalls in Form „einer amtliche Demarche“ zu äußern.[5] Bezeichnend für den Umgang der Reichsregierung
ist die Antwort von Reichskanzler Bethmann Hollweg auf das Ende 1915 geäußerte Ersuchen
des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Paul Graf Wolff-Metternich,
wenigstens in der deutschen Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum
Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufzuhören. Der Kanzler
lehnte dieses Ansinnen wie folgt ab: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges
wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde
gehen oder nicht.“[6]
Entsprechend hatte die Oberzensurstelle des Kriegspresseamtes die deutsche
Presse bereits am 7.Oktober 1915 auf die folgende Sprachregelung verpflichtet:
„Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere
freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische
Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen,
schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht, zu schweigen. Später, wenn direkt
Angriffe des Auslandes wegen `deutscher Mitschuld´ erfolgen sollten, muss man
die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und stets
hervorheben, dass die Türken von den Armeniern schwer gereizt wurden.“[7]
Dass
sich das Deutsche Reich durchaus in einer Position befunden hätte, um zu
Gunsten der Armenier einzugreifen, beweist das Beispiel des Leiters der deutschen
Militärmission und Oberbefehlshaber über die 5. Osmanische Armee, General Liman
von Sanders. Aus rein militärischen Gründen untersagte der preußische General
und osmanische Marschall im November 1916 die Deportation der Armenier aus
Smyrna (heute Izmir), ohne dass die jungtürkische Junta sich dieser Weisung
sperrte. Doch andere derartige militärisch oder auch humanitär begründete Interventionen
deutscher Militärs sind nicht bekannt geworden. Vielmehr deutet einiges darauf
hin, dass führende deutsche Militärs ihre türkischen Verbündeten zur Deportationen
von Armeniern sogar ermutigt haben. So gestand der Leider der
Operationsabteilung im türkischen Großen Hauptquartier, Otto von Feldmann, nach
dem Krieg, „dass auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehörte zu diesen –
gezwungen waren ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete
im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen“.[8]
So soll der türkische Deportationsbefehl vom August 1915 dem Oberbefehlshaber
der 1. Osmanischen Armee in Konstantinopel, Feldmarschall Colmar von der Goltz
vorgelegt und von diesem genehmigt worden sein.[9]
In
mehreren Fällen lässt sich auch eine direkte deutsche Beteiligung an
Deportationen und Massakern nachweisen. So unterzeichnete der preußische Major Böttrich als Chef des Verkehrswesens im türkischen
Hauptquartier Deportationsbefehle für die ihm unterstehenden armenischen Arbeiter
und Angestellten der Bagdadbahn und der
Artillerie-Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von
Reichenberg ließ armenische Deserteure in Zaitun und
widerständige armenische Zivilisten in Urfa zusammenschießen.
Nicht
nur Bündnistreue mit den türkischen Partnern oder militärische Überlegungen
leiteten führende deutsche Offiziere und Diplomaten, sondern auch offener
Rassismus, wobei die unter konservativen Kreisen im Kaiserreich gegenüber Juden
gepflegten antisemitische Stereotype direkt auf die christlichen Armenier
übertragen wurden. 1913 hatte Richard von Kühlmann,
1916 bis 1917 Botschafter in Konstantinopel und anschießend
Reichsaußenminister, die Armenier als „hochbegabtes, aber unruhiges Volks“
bezeichnet, das den Juden ähnlich sei. Doch die Armenier hätten sich „in noch
weit höherem Grad als die Juden als Elemente der Zersetzung erwiesen und
überall der Revolution die gefährlichsten Kämpfer gestellt“.[10]
Und der Chef des osmanischen Feldheeres, General Fritz Bronsart
von Schellendorf, erklärte: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner
Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich
niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in
mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu
ihrer Ermordung führte“,[11]
Aus einer solchen eliminatorischen Logik heraus folgerte
der deutsche Admiral und Chef der osmanischen Flotte, Wilhelm Souchon: „Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn
sie den letzten Armenier umgebracht hat.“[12]
Die
in einigen Fällen von deutschen Diplomaten und Militärs zaghaft gegenüber der
Reichsführung geäußerte Kritik am mörderischen Vorgehen der Jungtürken war
nicht nur humanitär begründet, sondern auch in der Sorge um das Ansehen des
Deutschen Reiches, wenn die Gräueltaten im Falle einer Kriegsniederlage zur
Anklage kämen. Die Sorge, führende Jungtürken könnten über die deutsche Rolle
auspacken, muss auch als ein Motiv dafür gesehen werden, dass diesen nach der
türkischen Kriegsniederlage mit deutscher Hilfe die Flucht vor Strafverfolgung
durch die britisch kontrollierte Sultans-Regierung in Konstantinopel ermöglicht
wurde und Talât Pascha als wohl Hauptverantwortlicher
für den Genozid Asyl in Deutschland bekam.
So
war es dann auch nach Kriegsende die Absicht des Auswärtigen Amtes, durch die
Herausgabe einer manipulierten Edition von diplomatischen Quellen zur
Orientpolitik des Kaiserreichs zwar die Vertreibungen und Massaker des
türkischen Verbündeten einzugestehen, doch gleichzeitig eine deutsche
Mittäterschaft zu vertuschen. Als Herausgeber des bereits 1919 erschienenen Werkes
„Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke“
gewann das Auswärtige Amt Johannes Lepsius. Der
Theologe, der als stimmgewaltiger Anwalt der verfolgten Armenier während des
Krieges mit seinen Veröffentlichungen als einer der Wenigen den Genozid bekannt
machte, sollte mit seinem guten Namen für die Authentizität der Edition bürgen.
Tatsächlich hatte Lepsius bei der Zusammenstellung
der Edition nicht mit Originaldokumenten, sondern mit den eben zum Teil vom
Auswärtigen Amt manipulierten Kopien gearbeitet, die er entgegen seines
wissenschaftlichen Anspruchs nicht mit den ihm zugänglichen Originalen abglich.
Wieweit Lepsius über die Manipulationen im Bilde war,
ist Spekulation. Sicherlich war es Lepsius Hauptziel,
den Genozid weiter in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Doch darf nicht
übersehen werden, dass der Theologe, der bereits kurz nach der Veröffentlichung
seines an Tausende evangelische Pfarrstellen in Deutschland versandten
„Berichts über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ 1916 in den
Niederlanden für den deutschen Nachrichtendienst des Ludendorff-Vertrauten Hans
von Haeften arbeitete, ein glühender deutscher
Patriot war, der politisch weit rechts stand. „Zwei Seelen wohnten seit langem
in der Brust des Johannes Lepsius: eine armenische
und eine deutsche“, beschreibt Wolfgang Gust, der die Manipulation der Akten
nachwies, das Dilemma des Theologen. „Die eine galt dem christlich-armenischen
Volk, die andere vornehmlich dem deutschen Kaiser, den Lepsius
für einen großen Pazifisten hielt und bewunderte.“[13]
Noch
im April 2007 verwies das Auswärtige Amt in seiner Antwort auf eine Kleine
Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu „Konsequenzen aus der deutschen
Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern“ auf die seit 1919
vorliegende „Sammlung einschlägiger
Akten“ des Armenienkenners Lepsius.[14]
Erst auf Nachfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke gab das AA im folgenden Jahr
zu: „Die von Johannes Lepisus 1919 herausgegebene
Aktenpublikation `Deutschland und Armenien 1914-1918´ gilt als manipuliert.“[15]
Stattdessen verwies das AA nun auf die
auf der Grundlage der im Politischen Archiv des Amtes verwahrten Akten
erarbeitete Dokumentensammlung von Wolfgang Gust „Der Völkermord an den
Armeniern 1915/16“ aus dem Jahr 2005.
Während
der Völkermord an den europäischen Juden unter dem Nazi-Faschismus in den
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend aufgearbeitet und als
Tatsache in der Öffentlichkeit präsent gehalten wurde, sollte es nach dem Ende
des Ersten Weltkrieges noch rund 85 Jahren dauern, bis sich die deutsche
Politik wenigstens teilweise ihrer Mitverantwortung für den Armeniergenozid
stellte, dessen schnelle und weitgehende Verdrängung aus der öffentlichen
Erinnerung erwiesenermaßen Adolf Hitler beim seinem Vernichtungskrieg gegen die
slawischen Völker ermutigt hatte.[16]
Noch
im März 2001 erklärte die damalige SPD-Grünen-Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke, dass „die Frage der Bewertung der
Massaker an den Armeniern 1915/16 im Wesentlichen eine historische Frage und
damit Gegenstand der Geschichtswissenschaft und in erster Linie Sache der
betroffenen Länder Armenien und der Türkei“ sei.[17]
Zu diesem Zeitpunkt lag dem Bundestag bereits seit rund einem Jahr eine vom
„Verein der Völkermordgegner“ sowie verschiedenen in der „Arbeitsgruppe
Anerkennung“ zusammengeschlossenen armenischen Verbänden initiierte Petition
zur Ankerkennung des Genozids als historische Tatsache vor, die von 16.000
Personen - meist in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern - unterzeichnet
war. Das Auswärtige Amt und der Petitionsausschuss erklärten die mit der
Petition geforderte Initiative „für nicht geeignet, Wunden der Vergangenheit zu
heilen und zur Versöhnung beizutragen“ und erklärten abermals die Bewältigung
der Vergangenheit in erster Linie zur Sache der „betroffenen Länder“, zu denen
Deutschland nicht gezählt wurde.[18]
Nun ergriff der PDS-Abgeordnete Uwe Hiksch die
Initiative für einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag mit den beiden zentralen
Forderungen auf Anerkennung des Genozids als Völkermord im Sinne der
Völkermordkonvention der Vereinten Nationen und einer öffentlichen Entschuldigung
des Bundestags „für die Unterstützung und wissentliche Duldung des Genozids
durch die damaligen Regierungsbeamten und Offiziere des Deutschen
Kaiserreichs.“[19]
Deer stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD,
Gernot Erler, gestand zwar in einem Schreiben an die SPD-Fraktionsmitglieder
das Faktum des Genozids ein, doch lehnte er es „aus grundsätzlichen Erwägungen“
ab, einen parlamentarischen Beschluss darüber herbeizuführen, da dies die
Aufgabe der Geschichtswissenschaft und nicht „irgendwelcher fremder Parlamente“
sei. „Eine Befassung des eigenen Parlaments mit der Geschichte seines Landes
hingegen ist sinnvoll und geradezu geboten“[20],
so Erler, der dabei völlig ignorierte, dass genau das eine zentrale Forderung
des Gruppenantrags von Hiksch war. Denn für Erler war
der Völkermord bereits „damals“ – im Ersten Weltkrieg - ein „öffentliches
Thema“ durch Botschafterberichte und Zeugenaussagen von deutschen Offizieren.
„Die Evangelische Kirche protestierte beim Kaiser und der Reichstag
beschäftigte sich mit dieser Sache.“ Kein Wort findet sich in Erlers Schreiben
über die deutsche Mittäterschaft und die von höchster Stelle angeordneten
Kriegszensur, die eben verhinderte, dass der Genozid zum öffentlichen Thema
werden konnte.
Ließ
sich eine Initiative der damals noch weitgehend verfemten PDS leicht vom Tisch
wischen, so tat sich die rot-grüne Bundesregierung im Februar 2005 schwerer mit
einem Antrag der oppositionellen Unionsfraktion. Wenige Tage vor dem
90.Jahrestag des Genozids einigten sich alle SPD, CDU/CSU, FDP und
Bündnis90/Die Grünen auf einen gemeinsamen Antrag „Erinnerung und Gedenken an
die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915“, der am 15.Juni 2005
verabschiedet wurde.[21]
Zwar vermied dies Resolution aus außenpolitischer Rücksichtnahme
auf die Türkei als wichtigem Handels- und NATO-Partner die Klassifizierung der
damaligen Ereignisse als Genozid und auch eine unmittelbare deutsche
Täterschaft wird nicht erwähnt. Doch in
der Begründung des Antrags wird die Zahl von über einer Million Opfer der
Deportationen und Massenmorde genannt und als salomonischer Kompromiss hinzugefügt,
dass zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale
Organisationen hier von einem „Völkermord“ sprechen. Der Deutsche Bundestag
„bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der
vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung
von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen“, heißt es in
der einleitenden Entschließung. In der Begründung wird beklagt, dass die
Reichsleitung es trotz ihrer Informationen über die „planmäßige Durchführung
der Massaker und Vertreibungen“ und dringender Eingaben vieler deutscher
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen wie der Politiker Philipp
Scheidemann, Karl Liebknecht und Matthias Erzberger oder der Kirchenvertreter
Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann unterlassen habe, wirksamen Druck auf
die osmanischen Verbündeten auszuüben. „Diese fast vergessene
Verdrängungspolitik des Deutschen Reiches zeigt, dass dieses Kapitel der
Geschichte auch in Deutschland bis heute nicht befriedigend aufgearbeitet
wurde.“ Die Bundesregierung wurde unter
anderem aufgefordert,
-
Dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türken und
Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnung und Verzeihen
historischer Schild erreicht wird,
-
Dafür einzutreten, dass sich Parlament,
Regierung und Gesellschaft der Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen
Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzen,
-
sich für die Bildung einer
Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer türkischen
und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten beteiligt
sind.
In
dem Antrag, an dessen Zustandekommen der Leiter des Lepisus-Archives
in Halle, der evangelische Theologe Hermann Goltz, besonderen Anteil hatte,
heißt es, dass „besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius,
der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft
hat, […] dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen
zwischen den armenischen , dem deutsche und dem türkischen Volk gepflegt und
erhalten werden.“ Was sich hier noch wie eine einfache Würdigung dieses
bekanntesten deutschen Fürsprechers der Armenier liest, sollte sich in den
folgenden Jahren allerdings als eine folgenschwere Sackgasse für die weitere
Aufarbeitung des Genozids und der deutschen Rolle daran entpuppen. So flossen
bislang alle für die Umsetzung des Antrags 15/5689 bereitgestellten
Bundesmittel von jährlich 100.000 Euro nach einem von allen Fraktionen außer
der Linksfraktion stattgegebenen Projektantrag von Goltz ausschließlich in das
von ihm geleitete Lepisus-Haus in Potsdam. In der
Villa, in der Lepsius zwischen 1907 und 1925 wohnte,
wurde eine Gedenkstätte für Lepsius eingerichtet.
„Die vom deutschen Bundestag beschlossene Förderung“, erläuterte Goltz, „ist
bestimmt für die Einrichtung einer öffentlichen ständigen Ausstellung zu Leben
und Werk von Dr. Johannes Lepsius sowie für die
Einrichtung des Johannes-Lepsius-Archivs und einer
Forschungsbibliothek im Lepsiushaus Potsdam. Die
Öffentlichkeitsarbeit des Lepsiushauses ist
thematisch dem gesamten Spektrum des Lebens und Werkes“ von Lepsius
gewidmet. „Zu diesem Spektrum gehört zuallererst der Kampf des Johannes Lepsius gegen die hamidischen
Massaker wie auch die Schaffung seines großen Armenier-Hilfswerkes ab 1896. Es
gehört ebenso dazu sein politisches Wirken für die Armenischen Reformen im
Osmanischen Reich (1912-1914) wie auch sein Kampf gegen den Völkermord an den
Armeniern (1915 ff).“[22]
Dass der Genozid hier erst an letzter Stelle der Aufzählung kommt, ist offenbar
kein Zufall. So werfen Kritiker wie der Genozid-Forscher Wolfgang Gust dem Vorstand
des Lepsius-Hauses vor, nichts für die Aufarbeitung
des Genozids zu tun, aber gleichzeitig „Lepsius als
Ikone zu pflegen“ und sein Haus zur „Stätte eines völlig unprotestantischen
Heiligenkultes“ zu machen.[23]
Kritisiert wird auch, dass das Haus eines früheren Islam-Missionars kaum ein
geeigneter Ort sein kann, um eine Annäherung zwischen Armeniern und türkischen
Muslimen voranzubringen.
Während
sich die türkische Regierung anfangs laut Auskunft der Bundesregierung „besorgt
über die geplante Einrichtung des Lepsius-Hauses“[24]
geäußert hatte, wurde dort der von Goltz vorgegebene Kurs mittlerweile
offensichtlich wohlwollend aufgenommen. So lud die islamisch-konservative AKP-Regierung
von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die
weiterhin den Genozid leugnet, das Lepsius-Haus
ausdrücklich zur Mitwirkung an einer im Rahmen bilateraler Gespräche zwischen
der türkischen und der armenischen Regierung im Oktober 2009 vereinbarten Historikerkommission ein – und der Vorstand
des Lepsius-Hauses nahm laut seinem Jahresprogramm
2010 die Einladung an. Dagegen drückte der Vorstand des Zentralrats der
Armenier in Deutschland in einem Schreiben vom 20.Januar 2010 seine
„Missbilligung der Mittäterschaft des Lepsiushauses
in einer sogenannten türkisch-armenischen Historikerkommission aus“[25],
die von türkischer Seite aus nur das Ziel verfolge, „die Anerkennung des
Völkermords an den Armeniern durch die Türken endgültig von der politischen
Agenda zu fegen“.
Von
Karl Marx stammt die Feststellung, dass sich die Geschichte zweimal wiederhole,
einmal als Tragödie und anschließend als Farce. Sollte also Lepsius,
der sich bereits 1919 bei den Aktenmanipulationen des Auswärtigen Amtes als
Feigenblatt zur Vertuschung deutscher Schuld einspannen ließ, erneut dazu herhalten
müssen, eine Aufarbeitung gerade der deutschen Rolle beim Genozid zu
verhindern?
Der jetzigen
Bundesregierung käme das durchaus entgegen, hat doch offenbar unter Schwarz-Gelb
ein Rollback in der armenischen Frage stattgefunden. Hatte die parteiübergreifende
Resolution von 2005 den Begriff „Genozid“ zwar vermieden, aber die Vernichtung
der Armenier ganz eindeutig im Einklang mit den Kriterien der UN-Konvention
über Völkermord beschrieben und damit zumindest indirekt anerkannt, so fällt
die Regierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zur
Umsetzung dieses Bundestagsantrag im Februar 2010 weit hinter diesen wieder auf
den Stand vor zehn Jahren zurück. Die völkerrechtliche Bewertung der Massaker
soll nun „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten bleiben“ und
die „Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache
der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien“ sein.[26] Diese Sichtweise blendet die millionenstarke
armenische Diaspora, für die der Genozid mehr noch als für die Republik
Armenien ein konstituierendes Element der Selbstwahrnehmung darstellt, ebenso
aus, wird die in der Bundestagsentschließung von 2005 zumindest teilweise anerkannte
historische Mitverantwortung Deutschlands. Eindeutig hatte es da geheißen: „Auch
Deutschland, das mit zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen Volk
beigetragen hat, ist in der Pflicht, sich der eigenen Verantwortung zu stellen.
Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der
Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen.“
Wohlgemerkt ist die Rede von Türken und Armeniern und nicht von den „betroffenen
Ländern Türkei und Armenien“. Die armenische Diaspora ist hier also ebenso
eingeschlossen, wie Millionen türkisch- und auch kurdischstämmige
Bürger in Deutschland.
Auf
eine Nachfrage der Linksfraktion vom Frühjahr 2010 heißt es, die
Bundesregierung nehme „insgesamt keine Bewertung der vorliegenden Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung zur Rolle des deutschen Kaiserreichs vor“[27].
Und weiter: „Angesichts eines noch laufenden Verfahrens armenischer Kläger vor
einem US-Bundesgericht gegen deutsche Unternehmen, in dem von Klägerseite auch
eine angebliche Zwangsarbeit beim Bau der Bagdad-Bahn vorgetragen worden ist,
gibt die Bundesregierung keine Stellungnahme ab.“[28]
Angesichts Tausender nachweislich für den Bau der Bagdadbahn
durch Konzerne wie die Deutsche Bank und die Philipp Holzmann AG von der
türkischen Armee herangezogener Armenier, die später in den sicheren Tod
geschickt wurden, kommt dies schon dem Versuch einer teilweisen
Genozid-Leugnung gleich.
Die
deutsch-türkische Waffenbrüderschaft des Ersten Weltkrieges findet bis heute
ihre Fortsetzung im Rahmen der NATO. Deutsche Rüstungsgüter kamen in den 90er
Jahren bei der Zerstörung von rund 4000 kurdischen Dörfern durch die türkische
Armee zum Einsatz, was von der Bundesregierung bis heute bestritten wird. Gleichzeitig
ermutigt die Bundesregierung die Unterdrückung der Kurden in der Türkei durch
ein eigenes repressives Vorgehen gegen kurdische Politiker und Medien in
Deutschland. Die Bagdadbahn-Politik des Kaiserreichs
findet heute ihre zeitgemäße Entsprechung in der geplanten Nabucco-Gaspipeline
von den kurdischen Gebieten der Türkei bis nach Europa. So, wie der christliche
deutsche Kaiser die christlichen Armenier dem Kriegsbündnis mit den Jungtürken opferte,
wird heute das Selbstbestimmungsrecht der Kurden Profiten der deutschen
Wirtschaft und geopolitischen Interessen der NATO geopfert.
Berlin
im Dezember 2010
Über
den Autor:
Dr.
Nikolaus Brauns, geb. 1971 in München, arbeitet als Historiker und Journalist in
Berlin und schreibt regelmäßig u.a. für die Tageszeitung junge Welt zur
Geschichte und Politik der Türkei. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen
Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Ulla Jelpke.
Zuletzt
erschien von ihm das gemeinsam mit Brigitte Kiechle verfasste Buch „PKK –
Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und
Islam“ (Stuttgart 2010).
[1] Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, 438 f.
[2] Dokumentensammlungen und Hintergrundinformationen zum Genozid, der deutschen Rolle dabei und der aktuellen Rezeption finden sich unter anderem bei: Taner Akcam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 2004; Jörg Berlin / Adrian Klenner: Völkermord oder Umsiedlung. Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich. Darstellung und Dokumente, Köln 2006; Vahakn N. Dadrian: German responsibility in the Armenian genocide; Watertown, Mass. 1996;
Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005; Artem Ohandjanian: Armenien. Der verschwiegene Völkermord, Wien/Köln/Graz 1989; Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei, Berlin 2010. Die Website www.armenocide.de bietet eine umfangreiche von Wolfgang und Siegrid Gust zusammengestellte und editierte Dokumentensammlung.
[3] Wolfgang Gust: Hätte Deutschland die Armenier retten können? Vortrag Frankfurt Paulskirche 24.April 2009. http://www.wolfgang-gust.net/armenocide/gusthome.nsf/d3cb8075f11223b4c12572ef004f2e81/bb415519c63cfd8ec12575a5006f39ae!OpenDocument
[4] Scheubner-Richter wurde als führender Nationalsozialist beim Hitler-Putsch am 9.November 1923 erschossen.
[5] Wangenheim an Scheubner-Richter, Politisches Archiv – Auswärtiges Amt (im folgenden als PA-AA), BoKon Bd. 168, A53, 3034. [1915-05-19-DE015[.
[6] PA-AA, R14089, A36184[1915-12-07-DE001]; Hervorhebung von N.B.
[7] Zit. nach: Kurt Mühsam: Wie wir belogen wurden. Die amtliche Irreführung des deutschen Volkes, München 1918, 76.
[8] Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 301 vom 20.Juni 1921.
[9] PA-AA, R14105, A51505[1918-11-25-DE-001].
[10] Zit. nach: Wolfgang Gust: „Verständnislose Auswüchse des Militarismus“, Historicum, Herbst 2007, 23.
[11] Zit. nach Julius H. Schoeps: Der verdrängte Genozid. Armenier, Türken und ein Völkermord für den bis heute niemand die Verantwortung übernehmen will. Internet: http://www.compass-infodienst.de/Compass/compass_extra/schoeps.htm
[12] Zit. nach: Wolfgang Gust: „Verständnislose Auswüchse des Militarismus“, Historicum, Herbst 2007, 21.
[13] Wolfgang Gust: Magisches Viereck – Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien. http://www.armenocide.de/armenocide/armgende.nsf/WebStart-De?OpenFrameset
[14] Bundestagsdrucksache 16/4959.
[15] Bundestagsdrucksache 16/10074.
[16] „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, fragte Hitler während einer Ansprache am 22. August 1939 vor den Oberbefehlshabern der Streitkräfte anlässlich des bevorstehenden Überfalls auf Polen.
[17] Bundestagsdrucksache 14/5540.
[18]
Auswärtiges Amt, Leiter Parlaments- und Kabinettsreferat, an den Verein der
Völkermordgegner e.V. Frankfurt/Main, Berlin 6. September 2001;
http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_12.pdf
[19] Uwe Hiksch, Entwurf für einen Gruppen-Antrag, http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_10.pdf.
[20] Gernot Erler an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, 8.Mai 2001; http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_08.pdf
[21] Die PDS war zu diesem Zeitpunkt nur durch zwei Abgeordnete und damit nicht als Fraktion im Bundestag vertreten. Bundestagsdrucksache 15/5689.
[22] Prof. Dr. Dr. hc. Hermann Goltz: ‚Heiligenkult‘ im Potsdamer Lepsiushaus? Eine notwendige Richtigstellung von Falschmeldungen vom 24. April 2009 aus der Frankfurter Paulskirche; http://www.lepsiushaus-potsdam.de/LHP-Richtigstellung_Falschmeldungen_24.04.2009.pdf
[23] Wolfgang Gust: Hätte Deutschland die Armenier retten können? Vortrag Frankfurt Paulskirche 24.April 2009. http://www.wolfgang-gust.net/armenocide/gusthome.nsf/d3cb8075f11223b4c12572ef004f2e81/bb415519c63cfd8ec12575a5006f39ae!OpenDocument
[24] Bundestagsdrucksache 16/10074.
[25] http://www.zentralrat.org/de/node/776.
[26] Bundestagsdrucksache 17/687.
[27] Bundestagsdrucksache 17/1798.
[28] Ebda.