Aus: junge
Welt vom 04.07.2018, Seite 10
/ Feuilleton
Am Berg der Kurden
Der
Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger gibt Einblick in die Geschichte der
türkisch besetzten syrischen Region Afrin
Von Nick Brauns
Man werde Afrin den »rechtmäßigen Besitzern zurückgeben«. Mit diesen Worten
kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
Ende Januar nach dem Einmarsch seiner Armee in den Selbstverwaltungskanton im
Nordwesten Syriens die Ansiedlung Hunderttausender syrisch-arabischer
Flüchtlinge an. Das sei eine Ankündigung ethnischer Säuberungen zwecks
Arabisierung und Turkisierung der bislang kurdisch
besiedelten Region, warnt der österreichische Politikwissenschaftler und
Sozial- und Kulturanthropologe Thomas Schmidinger in seinem nun im Wiener
Verlag Bahoe Books erschienenen Buch »Kampf um den
Berg der Kurden. Geschichte und Gegenwart der Region Afrin«.
Detailliert schildert
Schmidinger die geschichtliche, politische und sozioökonomische Entwicklung
sowie die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung dieser
aufgrund ihrer Abgeschlossenheit bis zu Beginn des türkischen Angriffskrieges
hierzulande unbekannten Region. Von einer drei Meter hohen Grenzbefestigung zur
Türkei hin abgeriegelt und von dschihadistischen
Kampfgruppen belagert, war der Kanton für Ausländer in den letzten Jahren nur
schwer zu erreichen.
Im Osmanischen Reich war
die gebirgige Region als Kurd Dagh
(Berg der Kurden) bekannt, mindestens seit dem Mittelalter lebten dort
kurdische Stämme. Während Erdogan behauptet, nur ein Drittel der Einwohner von
Afrin seien Kurden, ist Kurdisch für 98 Prozent der vor Ausbruch des syrischen
Bürgerkrieges 400.000 Einwohner die Muttersprache. Da Afrin bis zum türkischen
Angriff vom Krieg verschont geblieben war, hatten 300.000 Vertriebene aus
anderen Teilen Syriens dort Schutz gefunden, darunter auch zahlreiche Araber.
Geflüchtete prägten bereits vor rund 100 Jahren die Region. Überlebende des
türkischen Genozids an den Armeniern waren im 19. Jahrhundert die ersten
Bewohner von Afrin-Stadt. Es folgten Kurden, die im Zuge der Niederschlagung
von Aufständen in den 1920er Jahren aus der Türkei flohen. Schon in den 1930er
Jahren gab es in Ankara Pläne, Afrin von Syrien abzutrennen. Zu diesem Zweck
unterstützte die Türkei die gegen die französische Mandatsherrschaft kämpfende Muridin-Bewegung, die damit als Vorläuferin der heute unter
türkischen Fahnen in Afrin einmarschierten Freien Syrischen
Armee erscheint.
Bereits seit den 1980er
Jahren war die Arbeiterpartei Kurdistans PKK in Afrin aktiv, deren Vorsitzender
Abdullah Öcalan seit 1979 im syrischen Exil lebte. »Auch in Afrin bildeten
Frauen seit den 1980er Jahren einen wichtigen Teil der PKK-Basis, sowohl in ihrer
zivilen Arbeit in Syrien als auch als Kämpferinnen für die PKK in der Türkei«,
schreibt Schmidinger. 1990 wurden sechs PKK-Anhänger aus Afrin als
»Unabhängige« ins syrische Parlament gewählt – ein Zeichen für die absolute
Dominanz, die die Partei damals in der Region erreicht hatte. Das syrische
Regime duldete ihre Aktivitäten bis Ende der 1990er Jahre mit der Intention,
nationale Bestrebungen der syrischen Kurden zu kanalisieren und nach außen
gegen die Türkei zu richten. In jahrzehntelanger Arbeit wurde damit von der PKK
der Samen für die »Rojava-Revolution« gelegt. Gemeint
ist der im Windschatten des syrischen Bürgerkrieges betriebene Aufbau einer
rätedemokratischen Selbstverwaltung unter Führung der aus der PKK
hervorgegangenen Partei der Demokratischen Union (PYD).
Bei Regionalwahlen in
Afrin erhielt eine von der PYD dominierte Liste Ende letzten Jahres fast 90
Prozent der Stimmen. Für Schmidinger hat dieses Wahlergebnis nur »begrenzte
demokratische Legitimität«, da der oppositionelle Kurdische Nationalrat der
konservativen Anhänger des ehemaligen Präsidenten der irakischen Autonomen
Region Kurdistan, Masud Barsani, die Wahlen boykottiert hatte. Die Situation
sei vor dem türkischen Einmarsch »zwar demokratischer und pluralistischer als
in jenen Gebieten Syriens« gewesen, »die unter der totalitären Herrschaft des
Regimes oder unter der Herrschaft jihadistischer und
politisch-islamischer Milizen stehen«, meint der Wissenschaftler, als
»demokratisch im engeren Sinn« habe man Afrin allerdings nicht bezeichnen
können. Belege für diese eurozentrisch erscheinende Einschätzung bleibt
Schmidinger schuldig, dem wohl das westliche Modell einer parlamentarischen
Repräsentativdemokratie als Maßstab vorschwebt.
An seiner
grundsätzlichen Solidarität mit den Kurden in der Region ändert das nichts. Das
Buch solle »aufrütteln und einen kleinen Beitrag gegen das Unrecht leisten«,
heißt es in der Einleitung, die Schmidinger am 18. März verfasste, als die
türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldner in
Afrin-Stadt einmarschierten. »Der Kampf um den Berg der Kurden ist noch lange
nicht zu Ende!«
Thomas Schmidinger: Kampf um den Berg der Kurden. Geschichte und Gegenwart
der Region Afrin. Bahoe Books, Wien 2018, 176 Seiten,
17 Euro