"Weltpartei der sozialistischen
Revolution"
Die Gründung der IV.Internationale
Am
3.September 1938 fanden sich revolutionäre Sozialisten aus 12 Ländern in einer
Privatwohnung in Périgny bei Paris zusammen, um die Gründung einer
IV.Internationale zu proklamieren. Aus Sicherheitsgründen war die Konferenz,
auf der die Anhänger Leo Trotzkis die neue "Weltpartei der sozialistischen
Revolution" gründeten, auf einen Tag beschränkt. In den Monaten zuvor
waren mehrere enge Mitarbeiter Trotzkis durch den sowjetischen Geheimdienst GPU
ermordet worden. Selbst auf die Konferenz konnte der GPU einen Spitzel einschleusen.
Die
Delegierten aus Belgien, Brasilien, England, Deutschland, Frankreich,
Griechenland, Niederlande, Österreich, Polen, UdSSR und den USA nahmen als
Gründungsdokument den von Trotzki verfaßten Text "Der Todeskampf des
Kapitalismus und die Aufgaben der IV.Internationale" an. Dieses
"Übergangsprogramm", das an die Programmatik der Bolschewiki zu
Lenins Zeiten anknüpfte, will "den Massen in ihren Tageskämpfen helfen,
die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der
sozialistischen Revolution. Diese Brücke sollte aus einem System von
Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den heutigen Bedingungen und
dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unweigerlich
zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das
Proletariat." In ihrer Methodik hat diese zentrale Schrift der
trotzkistischen Bewegung bis heute ihre Aktualität behalten.
Die
Gründung der IV.Internationale war vor allem ein formaler Akt. Sie war das
Ergebnis von sechs Jahren politischem Kampf. Die Wurzeln der neuen
Internationale lagen in der Linken Opposition um Leo Trotzki in der
Sowjetunion. Ab 1923 verteidigte diese das bolschewistische Programm gegen
seine Entstellung durch die Stalin-Fration. Nach dem Scheitern der Revolution
in Europa geriet das kulturell und wirtschaftlich rückständige Land immer
stärker unter die Gewalt einer Partei- und Staatsbürokratie. Gegen die
zunehmende Bürokratisierung forderte die Linke Opposition eine Rückkehr zur
ursprünglichen Rätedemokratie. Gegen Stalins Dogma vom "Sozialismus in
einem Land" forderte sie weiterhin die internationale Revolution um die
Sowjetunion aus ihrer Isolation zu befreien. Nach dem Ausschluß der
Parteilinken aus der KPdSU 1927 und der Ausweisung Trotzkis aus der Sowjetunion
1929 gründete sich 1930 die Internationale Linke Opposition (ILO). Die ILO, der
vor allem langjährige Kader der kommunistischen Bewegung angehörten, verstand
sich als Fraktion der III. (Kommunistischen) Internationale und kämpfte für eine
Rückkehr zur Programmatik der ersten vier Weltkongresse. Vor allem drängte sie
zur Einheitsfronttaktik der Kommunisten mit den anderen Arbeiterparteien gegen
die faschistische Gefahr und verurteilten die Sozialfaschismuslüge.
Die
Niederlage der KPD vor den Nazis im Frühjahr 1933 war ein schwerer Schock für
Trotzki. Er verglich den 30.Januar 1933 mit dem 14.August 1914, der Zustimmung
der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten. Bald danach
war für Trotzki klar, daß die Komintern nicht mehr reformierbar war. "Die
allgemeine politische Weltlage zeichnet sich vor allem durch eine historische
Krise der Führung des Proletariats aus," schätze Trotzki die Situation
ein. Ausgehend von dieser Erkenntnis standen für ihn und die ILO der Aufbau einer
neuen Führung in Form neuer kommunistischer Parteien und einer neuen
Internationale auf der Tagesordnung. Dabei sollte keine rein
"trotzkistische" Internationale aufgebaut werden. Die ILO versuchte
daher in den folgenden Jahren, linkssozialistische Parteien und Abspaltungen
der Kommunistischen Parteien für ihr Projekt zu gewinnen. Auf einer Konferenz
der Internationalen Arbeitsgemeinschaft linkssozialistischer Parteien im August
1933 in Paris setzten sich die ILO zusammen mit der deutsche Sozialistische
Arbeiterpartei SAP und zwei niederländischen Parteien für den Aufbau einer
Vierten Internationale auf revolutionär-marxistischer Programmatik ein. Die
Zusammenarbeit mit diesen Bündnispartnern war schon bald von politischen
Differenzen geprägt. Die Liga der Kommunistischen-Internationalisten (LKI), wie
sich die ILO nun nannte, versuchte auch Linksentwicklungen innerhalb der
sozialdemokratischen Parteien für sich zu gewinnen. So traten französische
LKI-Anhänger kurzfristig in die französische SFIO ein und praktizierten dort
erstmals den "Entrismus", der bis heute eine wichtige Taktik
trotzkistischer Strömungen geblieben ist.
1936
gründete sich auf einer geheimen Konferenz in Paris die Bewegung für die
IV.Internationale. Eine sofortige Proklamierung der neuen Internationale, wie
sie Trotzki angesichts der weltpolitischen Ereignisse ungeduldig forderte, ließ
sich noch nicht durchsetzen. Auch auf der Konferenz im September 1938 gab es
eine Minderheit von Skeptikern, die die Gründung einer neuen Internationale in
einer Phase des Niedergangs der Arbeiterbewegung für zwecklos hielten. Ihnen
gegenüber erklärte Trotzki im "Übergangsprogramm": "Die
IV.Internationale, antworten wir, braucht nicht 'proklamiert' zu werden. Sie
existiert bereits und sie kämpft. Sie ist schwach? Ja, sie ist noch nicht sehr
groß, denn sie ist noch jung. Es sind bis jetzt vor allem Kader. Aber diese
Kader sind das einzige Faustpfand für die Zukunft. Außerhalb dieser Kader gibt
es auf unserem Planeten keine einzige revolutionäre Strömung, die diesen Namen
wirklich verdient. Wenn unsere Internationale auch zahlenmäßig noch schwach ist, so ist sie doch stark in
ihrer Doktrin, ihrem Programm, ihrer Tradition und in der unvergleichlichen
Festigkeit ihrer Kader."
Trotzkis
Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch der neuen Internationale zur
Massenbewegung wurde enttäuscht. Nur in wenigen Ländern wie den USA verfügte
die IV.Internationale über größere Parteien mit Einfluß in der Arbeiterklasse.
Vielfach waren Trotzkis Anhänger praxisferne Intellektuelle, während die Masse
der Arbeiter den traditionellen kommunistischen Parteien verhaftet blieb. Mit
der Ermordung Leo Trotzkis durch einen Agenten Stalins am 20.August 1940
verliert die junge Internationale mitten im Weltkrieg ihren wichtigsten Führer.
Viele ihrer Kader kommen in den faschistischen Lagern um, oder werden vom
sowjetischen Geheimdienst liquidiert.
Die
Geschichte des Nachkriegstrotzkismus erscheint vor allem als eine Geschichte
des Sektierertums, des praxisfernen Dogmatismus und der Spaltungen in
konkurrierende Strömungen der IV.Internationale. Vor dem Hintergrund des
wirtschaftlichen Aufschwungs und eingeklemmt zwischen erstarkten
kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien hatten es die Trotzkisten
schwer, Einfluß zu erlangen. Dies änderte sich erst mit der Jugend- und
Arbeiterradikalisierung von 1968, als sich der Trotzkismus als Alternative zu
den bürokratisierten Arbeiterparteien darstellte. Heute existieren in über 50
Ländern weltweit Organisationen, die sich auf die IV.Internationale berufen, in
Klassenkämpfe eingreifen und zum Teil beachtenswerte Wahlergebnisse erzielen.
In
seinem Tagebuch hatte Trotzki die Gründung der IV.Internationale als seine
wichtigste Tat, wichtiger als die Leitung der Oktoberrevolution und den Aufbau
der Roten Armee, bezeichnet. Der Verdienst der Trotzkisten ist es, die
unverfälschte marxistische Programmatik durch die Finsternis von Faschismus und
Weltkrieg, stalinistischer und sozialdemokratischer Verfälschung
hinübergerettet zu haben.
Nick
Brauns