Junge Welt 30.04.2010
/ Schwerpunkt / Seite 3
Frieden und Sozialismus
Vor 120 Jahren wurde zum ersten Mal der 1. Mai als
internationaler Kampftag der Arbeiterklasse begangen
Von Nick
Brauns
»Heute, wo ich diese Zeilen
schreibe, hält das europäische und amerikanische Proletariat Heerschau über
sein e zum ersten Male mobil gemachten Streitkräfte, mobil gemacht als ein
Heer, unter einer Fahne und für ein nächste Ziel: den... gesetzlich
festzustellenden, achtstündigen Normalarbeitstag. Und das Schauspiel des
heutigen Tages wird den Kapitalisten und Grundherren aller Länder die Augen
darüber öffnen, daß heute die Proletarier aller
Länder in der Tat vereinigt sind. Stände nur Marx noch neben mir, dies mit
eignen Augen zu sehn!« Mit diesen Worten beschloß Friedrich Engels am 1. Mai 1890 sein Vorwort zur
vierten deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests.
Demonstrationsstreik
Ihren eigentlichen Ursprung hat die Maidemonstration in der britischen Kolonie
Victoria – dem heutigen Australien. Im Jahre 1856 hatten die australischen
Arbeiter mit einem eintägigen Demonstrationsstreik am 21.April den
Achtstundentag erkämpft, der erstmals am 1. Mai dieses Jahres Gültigkeit bekam.
Dieses australische Beispiel hatten Hunderttausende US-amerikanische Arbeiter
vor Augen, als sie 30 Jahre später am 1. Mai 1886 – dem traditionellen Stichtag
für den Abschluß von Arbeitsverträgen – in einen
mehrtägigen Ausstand für den Achtstundentag traten. In Chicago griff die
Polizei die Streikenden an und erschoß am 3. Mai
mehrere Arbeiter. Auf der anschließenden Protestkundgebung auf dem Haymarket warf ein von den Unternehmern bezahlter
Provokateur eine Bombe auf die Polizei. Bei dem Anschlag und den anschließenden
Straßenkämpfen wurden mehrere Polizisten und Arbeiter getötet. Acht
anarchistische Streikführer, die mehrheitlich gar nicht vor Ort waren, kamen in
Haft. Vier von ihnen wurden in einem Schauprozeß zum
Tode verurteilt und am 11. November 1887 öffentlich am Strang hingerichtet.
Gegenüber seinem Henker erklärte der deutschstämmige Herausgeber der
Arbeiter-Zeitung, August Spies: »Die Zeit wird kommen, wo unser Schweigen
mächtiger sein wird als die Stimme, die ihr heute erstickt.«
Damit sollte der Anarchist rechtbehalten.
Vom 14. bis 20. Juli 1889 kamen in Paris rund 400 Delegierte von
Arbeiterorganisationen aus 20 Ländern zum Internationalen Sozialistenkongreß
zusammen. Die Forderung nach dem Achtstunden-Arbeitstag stand im Mittelpunkt
dieses Kongresses, der zur Gründung der Zweiten Internationale führte. Da der
Amerikanische Arbeiterbund bereits den 1.Mai 1890 für eine landesweite
Kundgebung zum Gedenken an die Haymarket-Märtyrer
festgelegt hatte, einigten sich die Delegierten des Pariser Kongresses,
darunter die deutschen Reichstagsabgeordneten August Bebel und Wilhelm
Liebknecht, auf diesen Termin als weltweiten Kampftag. »Es ist für einen
bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren,
und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen
Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die
öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden
festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Kongresses von
Paris zur Ausführung zu bringen.« Dieser letzte Halbsatz wird gerne von
Gewerkschaftsbürokraten und rechten Sozialdemokraten unterschlagen, um die
Forderungen am 1. Mai allein auf ökonomische zu beschränken. Seit der
weitgehenden Durchsetzung des Achtstundentages in den 1920er Jahren soll er gar
vom Kampf- zum reinen Feiertag degradiert werden. Unter den genannten ȟbrigen
Beschlüssen« des Sozialistenkongresses stand an vorderster Stelle die Erhaltung
des Friedens »als die erste und unerläßliche
Bedingung jeder Arbeiteremanzipation«. Dabei hatten die Delegierten betont, daß »der Krieg, das traurige Produkt der gegenwärtigen
ökonomischen Verhältnisse, erst verschwinden wird, wenn die kapitalistische
Produktionsweise der Emanzipation der Arbeit und dem internationalen Triumph
des Sozialismus Platz gemacht hat«. Der 1. Mai war damit von Anfang an auch ein
Kampftag für Frieden und Sozialismus.
Sozialistengesetze
Der Beschluß des Sozialistenkongresses fiel mitten in
die größte Streikwelle im Deutschen Reich des 19.Jahrhunderts, an der sich fünf
Prozent aller Arbeiter beteiligten. Am 25. Januar 1890 fiel die Vorlage zur
Verlängerung des seit 1878 geltenden Sozialistengesetzes im Reichstag durch.
Trotz dieses Verbots aller sozialistischen Betätigungen außerhalb der
Reichstagsfraktion war die Sozialistische Arbeiterpartei in der Illegalität
massiv angewachsen und wurde bei der Reichstagswahl vom 20. Februar mit 1,4 Millionen
Stimmen und 19,7 Prozent zur stärksten Partei. Als im März der »Eiserne
Kanzler« Otto von Bismarck seinen Rücktritt einreichte, herrschte nun
Unsicherheit über den zukünftigen Umgang des Staates mit der Arbeiterbewegung.
Ängstlich war die Führung der Sozialdemokratie darauf bedacht, ihren
parlamentarischen Erfolg nicht zu verspielen. Zwar sollten am 1. Mai allerorts
Versammlungen und Feste veranstaltet werden. Doch die Arbeiter sollten nur dort die Arbeit ruhen lassen, wo dies ohne
Konflikte möglich war, mahnte der Parteivorstand. »In Deutschland werden wir
den 1. Mai so still wie möglich begehen müssen«, schrieb selbst Friedrich
Engels sorgenvoll an Laura Lafargue, die Tochter von
Marx. »Das Militär hat strikten Befehl, sofort einzuschreiten und nicht auf die
Aufforderung der Zivilbehörden zu warten, und die politische Polizei – die
sonst brotlos wäre – bietet alles auf, um einen Zusammenstoß zu provozieren.«
Trotz drohender Sanktionen und der zögerlichen Politik der sozialdemokratischen
Führung beteiligten sich nach Angaben der sozialdemokratischen Presse am 1. Mai
deutschlandweit rund 100000 Arbeiter an Streiks, Demonstrationen, Maifeiern und
Maispaziergängen. In Berlin, Darmstadt, Dresden, Frankfurt, Königsberg,
Leipzig, München und Nordhausen streikten etwa zehn Prozent der Arbeiterschaft.
Aus der Hamburger Maifeier, gegen die der Unternehmerverband mit Aussperrungen
zur Erzwingung des Austritts aus den Gewerkschaften vorging, entwickelte sich
ein bis in den September reichender Kampf von zeitweilig über 20000 Arbeitern.
In österreichischen Industriestädten wurde die Arbeit geschlossen niedergelegt,
und in Wien demonstrierten 50000 Arbeiter im Prater. Ebenso viele folgten in
Budapest einem Aufruf der ungarischen Arbeiterpartei. In Prag, Stockholm und
Kopenhagen waren jeweils rund 30000 auf der Straße. In Rom wurde in zahlreichen
Betrieben gestreikt, obwohl 14000 Soldaten ein allgemeines Versammlungsverbot
durchsetzen sollten. In Frankreich, Belgien und Spanien erschoß
das Militär mehrere Arbeiter. Die größte Maikundgebung mit 300000 Arbeitern
fand am 4. Mai – einem Sonntag – im Londoner Hyde Park statt. Nach dem großen
Erfolg dieser ersten gemeinsamen Manifestation beschloß
die Zweite Internationale im August 1891, den Maitag von nun an jährlich als »gemeinsamen
Festtag der Arbeiter aller Länder, an dem die Arbeiter aller Länder die
Gemeinsamkeit ihrer Forderungen und ihrer Solidarität bekunden sollen« zu
begehen.
Quelle:
Aufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vom
13.April 1890 zur Feier des 1. Mai
Ein
allgemeines Ruhen der Arbeit läßt sich unter den
gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen unmöglich erwirken; im wesentlichen
dieselben Gründe, die den Kongreß veranlaßten,
den allgemeinen Streik zu verwerfen, stellen sich auch dem Plan einer solchen
allgemeinen Arbeitsfeier, dem allgemeinen Ruhenlassen der Arbeit für die Dauer
eines bestimmten Tages, entgegen. Zu diesen Erwägungen kommen noch politische
Bedenken; es liegt in der Natur der Dinge, daß die
Feinde der Arbeitersache in Deutschland jetzt alles aufbieten, um den Arbeitern
die Früchte des Sieges vom 20. Februar d.J. zu entreißen. Wer die Preßorgane der Bourgeoisie liest, ersieht aus denselben, daß die Feinde der Arbeitersache auf den 1. Mai große
Hoffnungen setzten. Sie hoffen und wünschen, daß die
Kundgebung des 1.Mai zu Konflikten mit der Staatsgewalt führen werde. Unter
solchen Umständen können wir es mit unserem Gewissen nicht vereinigen, den
deutschen Arbeitern zu empfehlen, daß sie den 1.Mai
zu einem Tag der allgemeinen Arbeitsruhe machen. (...) Die deutsche
Sozialdemokratie hat nicht nötig, Heerschau zu halten nach dem großen Aufmarsch
und Sieg des 20.Februar. (...) Wo immer man eine Arbeitsruhe am 1. Mai ohne
Konflikte erwirken kann, da möge es geschehen.«
Aus: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung, Band III, Berlin 1974, Seiten 326f.